Mittwoch, 29. Juni 2005, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Kunst als Trost
Patricia Leinhos' Tanzstück "Life Insurance" im Gallus Theater
Es gibt keine Versicherung für das Leben - oder vielmehr gegen den Schmerz, den es bereiten kann. Auf dieser ebenso bedauerlichen wie unumstößlichen Tatsache hat die Frankfurter Tänzerin und Tanzlehrerin Patricia Leinhos ihr neues Stück "Life Insurance" aufgebaut, das sie nun zusammen mit Julia Lerch im Frankfurter Gallus Theater zeigte. Allerdings nicht, um in einem Jammertal zu enden. Leinhos geht es, das enthüllt sich allerdings erst in den letzten Minuten, um die kreative Kraft, die der Schmerz freisetzen kann.
Der Tanz nimmt in "Life Insurance" nicht den größten Raum ein. Entstanden ist eine Kombination aus Videoprojektion und deren Kommentierung, auch Weiterführung durch die beiden Akteurinnen. Deren Bewegungsrepertoire ist sehr überschaubar, zum Teil auch dezidiert minimalistisch. Dennoch gelingt es mit diesen wenigen Mitteln, nicht nur Interesse, sondern auch Gefühle auszulösen und in gewisser Weise auch eine Geschichte zu erzählen: Die eines psychischen Prozesses, der in einen künstlerischen mündet.
Daß es um Schmerz, Depression, Angst, Verzagtheit geht, wird von den ersten Momenten an deutlich. Die schwarzweiße Videoprojektion im Bühnenhintergrund zeigt Lerch in Großaufnahmen. Alle ihre Gesten, das Händeringen, die umschatteten Augen, die ins Leere starren, zeigen Variationen der Trauer und Verzweiflung. Der Körpersprache auf der Leinwand setzt Leinhos eine präzise, sich wiederholende Zeichensprache entgegen.
Immer wieder wird das Video von Lerch, die es auf der Bühne in einem kleinen Fernseher betrachtet, angehalten. Tanzpassagen als Soli oder Duo greifen auch recht alltägliche, gar banale Techniken der Schmerzverarbeitung auf, die jeder kennen dürfte: Während Lerch sich mit Chers "Strong enough" Mut anhüpfen will, gibt sich Leinhos mit elegischen Bewegungen der Trauerstimmung in Griegs "Ases Tod" aus der Peer-Gynt-Suite hin. Allerdings scheint es angesichts dieser Musiken dann doch weniger um Lebensangst oder das Leiden an der Welt zu gehen, das ein Lautréamont-Zitat auf dem Programmblatt thematisiert, sondern eher um eine gescheiterte Beziehung. Gleichwie, Leinhos' Stück negiert derlei einfaches Abarbeiten denn doch als Trost. Den, so behauptet es mit einigem Pathos, stiftet die Kreativität. Das Video, nunmehr farbig, zeigt Lerch und Leinhos bei der Arbeit an dem Schmerz-Stück. Dessen Vollendung quittieren sie, auf der Leinwand wie auf der Bühne, mit einem glücklichen Lächeln.
Eva-Maria Magel
Samstag, 25. Juni 2005, Frankfurter Rundschau
Kurzes Glück
Patricia Leinhos´ eindringliche Arbeit “Life Insurance“ im Gallus
Der Frau, deren Kopf auf der Leinwand im Bühnenhintergrund zu sehen ist, geht es nicht gut. Ihr Gesicht ist geschwollen, ihre Augen sind verweint, ihre Haare kleben an ihrem Kopf, ihre Haut ist von kleinen Pickeln übersät. Immer wieder versteckt sie ihr Gesicht hinter den Armen. Die andere Frau, die vor der Leinwand steht, scheint zu wissen, was passiert ist. Mit mechanischen Bewegungen ihrer Arme und Hände gibt sie in Gebärdensprache Hinweise auf das Elend, das sich hinter ihr abspielt.
Life Insurance, "Lebensversicherung" also, hat Patricia Leinhos ihr neues Stück genannt, das sie im Frankfurter Gallus-Theater zusammen mit Julia Lerch zeigt. Knapp über eine Stunde lang treten die beiden in ein Wechselspiel mit dem im Hintergrund ablaufenden Schwarz-Weiß-Video, in dem Julia Lerch in verschiedensten Gefühlszuständen zu beobachten ist. Meistens ist sie traurig und nachdenklich, selten trägt ihr Gesicht auch Züge der Freude. Bisweilen halten die beiden Performerinnen das Video über eine Fernbedienung an und kommentieren dann das Standbild tänzerisch.
In der Bewegungssprache der Tänzerinnen spiegelt sich die gedrückte Stimmung der filmischen Bilder. Ruhig und bedächtig bewegen sie sich, lassen sich langsam zu Boden gleiten, bleiben lange bewegungslos auf dem Bauch liegen, heben dann sachte den Kopf nach oben, verharren sekundenlang in dieser Position und legen ihren Kopf schließlich behutsam zur anderen Seite ab. Die winzigen Verschiebungen in den Bewegungsmustern erinnern an den amerikanischen Minimal Dance der siebziger Jahre, der das tänzerische Vokabular auf kleinste choreografische Einheiten verkürzte und diese mit zum Teil nur minimalen Veränderungen wiederholte und variierte.
Auch wenn die Vorbilder deutlich zu Tage treten, ist Life Insurance sehenswert. Die Verbindung des minimalistischen Bewegungsmaterials mit den eindringlichen, von Paola Anziché geschaffenen Videobildern erzeugt eine bewegende, geradezu intime Atmosphäre, die noch dadurch verschärft wird, dass zumeist auf der Bühne Totenstille herrscht. Ganz selten erklingt Musik, beispielsweise kleine Sequenzen aus Chers Strong Enough, zu denen die Tänzerinnen dann für Momente ausgelassen auf der Bühne herumhüpfen und danach ebenso schnell wieder in ihre alte Melancholie versinken. Auf das Glück gibt es noch keine Versicherungspolicen.
Gegen Ende des Stücks wird abrupt ein neues Video eingespielt. Es zeigt einen Tanzsaal, in dem Patricia Leinhos und Julia Lerch Life Insurance einstudieren. In mühseliger Kleinarbeit erfinden sie einzelne choreografische Muster, üben sie Drehungen und Fallbewegungen.
Der Zusammenhang dieser Bilder mit den berührenden Elementen zuvor erschließt sich allerdings nicht. Oder sollte die Niedergeschlagenheit der beiden Tänzerinnen zu Anfang des Stücks mit ihren Probenerlebnissen zu tun gehabt haben? Leider gibt es dafür aber keine schlüssigen dramaturgischen Anhaltspunkte. So endet eine eindringliche, emotional dichte Tanzperformance mit einem großen Fragezeichen. Schade drum.
Volker Ballweg