Freitag, 19. September 2003
Minimale Verschiebungen der Bewegungsmuster
Patricia Leinhos zeigt im Gallus Theater ihre Choreographien "Close Up" und "Quartett"
Zwei Leinwände im leichten Winkel zueinander gedreht bilden die Rückwand der Bühne. Aus dem Spalt in ihrer Mitte tritt die Tänzerin Patricia Leinhos und legt sich auf der Mittelachse auf den Rücken. Bis die Musik ganz verklungen ist, lauscht sie dem Intermezzo in Es-Dur von Johannes Brahms. Nur einmal zieht sie ein Bein an und setzt sich auf, hört dann ebenso regungslos weiter bis am Ende mit der letzten Note ihr Kopf leicht nach rechts auf ihre Schulter fällt. Im Stehen frontal zum Publikum tanzt sie anschließend eine kleine Bewegungssequenz, greift sich mit der rechten Hand an den Hals, streicht sich über den Nacken und läßt ihre Arme vor dem Gesicht hin und her schwingen.
Wie sich die Musik in der Bearbeitung von Ekkehard Ehlers verschiebt und elektronisch verzerrt wird, verschiebt sich auch der Tanz auf die beiden Leinwände, die wie die beiden Hälften eines Gesichts die Bühne beherrschen. Während Leinhos regungslos auf einem Stuhl im Dunkeln zwischen den beiden Leinwänden sitzt, sind hinter ihr Nahaufnahmen, „Close Ups“, einzelner Körperpartien zu sehen, wie sie Variationen der gleichen Bewegungsfolge ausführen. Zwei Arme, die sich ganz leicht drehen, fliegen über die Wände, die rechte Schulterpartie mit dem Griff an den Hals rückt ebenso ins Bild wie ihr Gesicht im Profil und zwei Augen, die blinzeln. In den „Close Ups“ spaltet sich unsere Wahrnehmung des tanzenden Körpers in viele verschiedene Perspektiven auf, die wir bei der Live-Präsentation noch als einen einzigen Zusammenhang wahrgenommen haben.
Patricia Leinhos, die unter anderem auch in New York modernen und postmodernen Tanz studiert hat, ist eine Ausnahme in der freien Tanzszene der Region, die aufhorchen läßt. Am Tanztheater mit seinen mittlerweile rundweg ausgeloteten Menschen- und Gesellschaftsbildern hat sie in ihrem jüngsten Abend, der im Gallus Theater zu sehen war, wenig Interesse. Statt dessen orientiert sie sich am amerikanischen Minimalismus mit seiner Faszination für rigide choreographische Strukturen und deren oft kleinteilige Variationen. Man muß schon Spaß daran haben, sich den minimalen Verschiebungen der Bewegungsmuster und deren körperlicher Artikulation durch die Tänzerinnen hinzugeben, um mit „Close Up“ und „Quartett“ etwas anfangen zu können. Es sind zwei schöne und intelligente Stücke, die genau gearbeitet sind, deren nüchterne Strenge allerdings zuweilen noch ein wenig zu stark den Duft der siebziger Jahre ausstrahlt.
„Quartett“, das eigentlich ein Duo ist, will man nicht die vier Reihen mit je vier nackten Glühbirnen an der Decke als Quartett bezeichnen, beginnt mit einer Vierteldrehung des linken Fußes. Die beiden Tänzerinnen Isabelle Drexler und Silke Wiegand führen sie synchron aus und entwickeln daraus eine Bewegungsfolge aus fast alltäglich wirkenden Schritten, Drehungen und kleinen Sprüngen. Doch nach einer Weile sind ihre Bewegungen auseinandergedriftet, ohne daß wir es bemerkt hätten. Während Isabelle Drexler in den anschließenden Solovariationen überwiegend kleinteilige, am und im Körper verharrende Bewegungen tanzt, bevorzugt Silke Weigand weicheres fließenderes Material. Vielleicht erweist sich Drexler deshalb als die spannendere, weil genauere Tänzerin.
Leinhos verlegt die Emotion in die Musik, die sie, wie das Stück von Sarah Vaughn, dann einspielt, wenn gerade nicht getanzt wird. Mit unterschiedlichen Helligkeitsstufen hebt sie das Licht auf nackter Bühne immer wieder als Akteur in unser Bewußtsein. Am Ende treffen sich die beiden Tänzerinnen wieder, wiederholen ihre Eingansphrase achsensymmetrisch und gleich darauf noch einmal im 45 Grad Winkel zueinander. „Quartett“ verliert immer dann Wirkung, wenn die Struktur, die verschoben wird, nicht mehr erkennbar und die Bewegungen daher willkürlich erscheinen. Ein genauerer Blick auf das choreographische Ganze könnte dem Abhilfe schaffen.
Gerald Siegmund
Professor für Choreographie und Performance an der Universität Gießen